Bericht zu den Vorträgen von Prof. Dr. Wolfgang Merkel und David Kirchner
Part of our series "The future of democracy"
Unter dem Titel Democracy and capitalism: symbiosis or contradiction? widmete sich die Veranstaltung einem Verhältnis, das seit Jahrzehnten zwischen fruchtbarer Ergänzung und tiefem Konflikt pendelt. Prof. Dr. Wolfgang Merkel (WZB) und David Kirchner (pw-Portal) zeichneten ein vielschichtiges Bild dieser ambivalenten Beziehung. Im Mittelpunkt standen vor allem jene Spannungen, die aus den unterschiedlichen Logiken politischer Gleichheit und kapitalistischer Ordnung erwachsen und demokratische Systeme zunehmend unter Druck setzen. Gleichzeitig wurde betont, dass der Kapitalismus auch zur Stabilisierung und Weiterentwicklung demokratischer Strukturen beiträgt. Doch trotz dieses differenzierten Blicks blieb der Fokus des Abends klar auf den Bruchlinien, an denen Demokratie und Kapitalismus heute sichtbar aufeinanderstoßen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Julia Werner (SW&D).
Ökonomische Ungleichheit als Fundament politischer Ungleichheit
Einer der zentralen Befunde des Abends war die wachsende Kluft zwischen ökonomischer und politischer Gleichheit. Ausgehend von aktuellen Studien wurde verdeutlicht, wie stark sich soziale Unterschiede im politischen Prozess niederschlagen.
Menschen aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten nehmen deutlich seltener an Wahlen teil – eine Verzerrung demokratischer Partizipation, die sich in vielen westlichen Demokratien beobachten lässt.
Auch in der parlamentarischen Repräsentation spiegelt sich diese Schieflage wider: Arbeitnehmer*innen und Menschen ohne akademischen Hintergrund sind deutlich unterrepräsentiert. Die Vortragenden befanden, dass politische Entscheidungen die Präferenzen höherer Einkommensgruppen systematisch stärker berücksichtigen als jene der sozial Benachteiligten.
Die Demokratie verliert damit einen ihrer zentralen Pfeiler: die politische Gleichheit. Die zugrunde liegende Ursache, so die Analyse, liegt im kapitalistischen Wirtschaftssystem selbst, das Ungleichheit nicht nur erzeugt, sondern strukturell reproduziert.
Erosion demokratischer Teilhabe in der Arbeitswelt
Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion widmete sich der Frage, wie demokratische Prinzipien in der Arbeitswelt umgesetzt – oder unterlaufen – werden. Zwar existieren mit Tarifautonomie und Mitbestimmung wichtige Errungenschaften kollektiver Teilhabe, doch diese geraten zunehmend unter Druck. So machte David Kirchner deutlich, dass die Arbeitswelt in vielen Bereichen von unilateralen Entscheidungen der Arbeitgeberseite geprägt bleibt, deren Macht sich aus dem Eigentum an Produktionsmitteln ableitet – und weniger aus demokratischer Legitimation.
Die zuletzt beobachtete Schwächung von Gewerkschaften, tariflichen Bindungen und betrieblichen Beteiligungsrechten zeigt, dass demokratische Mitbestimmung in der ökonomischen Sphäre keineswegs selbstverständlich ist. Auch dies verstärkt das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen beiden Systemen.
Zwei Systeme, zwei Logiken: Warum Demokratie und Kapitalismus einander widersprechen
Professor Merkel stellte zudem die unterschiedlichen Funktionslogiken von Demokratie und Kapitalismus gegenüber. Während die Demokratie auf kollektiven Entscheidungen, Gleichheit und öffentlicher Debatte beruht, orientiert sich der Kapitalismus an privatem Eigentum, Gewinnmaximierung und Konkurrenzprinzipien.
Der Vergleich zeigte:
- Democracy erzeugt politische Macht durch Bürgerstatus, Wahlen und Beteiligung.
- Kapitalismus erzeugt Macht durch Eigentum und Kapital.
Diese systemischen Unterschiede führen zwangsläufig zu Spannungen. So konstatierte Professor Merkel: Demokratie braucht den Kapitalismus – aber der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht.
Kapitalistische Ökonomien können in sehr unterschiedlichen politischen Kontexten existieren, von liberalen Demokratien über staatskapitalistische Autokratien bis hin zu oligarchischen Systemen.
Globale Zwänge und das Dilemma politischer Gestaltung
Ein weiteres zentrales Thema war die Frage, warum demokratische Politik sich so schwer damit tut, der steigenden Ungleichheit entgegenzuwirken. Mehrere Faktoren wurden herausgearbeitet:
- ein systematischer Rückzug der unteren Schichten aus dem politischen Prozess,
- Wahlstrategien, die sich auf die „Mitte“ konzentrieren,
- kulturelle Konflikte, die ökonomische Themen überlagern,
- die zunehmende Macht wirtschaftlicher Eliten, darunter Tech-Milliardäre
Besonders aufschlussreich war die Darstellung des sogenannten Rodrik-Trilemmas, dem zufolge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und weitreichende ökonomische Globalisierung nicht gleichzeitig voll realisierbar sind. Politische Systeme müssen sich entscheiden, welchen dieser drei Pole sie priorisieren – eine Situation, die viele Staaten heute vor Herausforderungen stellt.
Wirtschaftlicher Wandel und geopolitische Verschiebungen
Mit Blick auf die globale Ebene skizzierte Prof. Merkel einen deutlichen Wandel: weg vom neoliberalen Paradigma der vergangenen Jahrzehnte und hin zu einer stärker protektionistischen, industriepolitischen und geopolitisch aufgeladenen Wirtschaftsordnung. Zölle, Exportbeschränkungen, Technologierivalitäten und verschärfte Industriestrategien prägen zunehmend das internationale Umfeld.
Ein ernüchternder, aber konstruktiver Ausblick
Beide Beiträge ebenso wie die Diskussion mit dem Publikum machten deutlich, dass die aktuellen Krisensymptome nicht auf ein Scheitern des Kapitalismus zurückzuführen sind – sondern auf seinen Triumph. Der Kapitalismus setzt sich gegenüber demokratischen Kontrollversuchen immer wieder durch und erschwert politische Entscheidungen zugunsten größerer Gleichheit oder sozialer Abfederung.
Dennoch fiel der abschließende Ausblick nicht völlig pessimistisch aus. Zwar sei mit einer „Schrumpfversion“ demokratischer Systeme zu rechnen, doch keineswegs zwingend mit einem abrupten Kollaps. Demokratische Politik könne Räume zurückerobern – vorausgesetzt, sie stelle grundlegende Weichen neu und setze soziale und politische Gleichheit wieder deutlicher ins Zentrum.
Die Veranstaltung zeigte eindrucksvoll, wie komplex und zugleich zentral das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus ist. Beide Referenten näherten sich der Frage mit unterschiedlichen Schwerpunken, doch ihre Diagnosen ergänzten sich zu einem klaren Gesamtbild: Der Kapitalismus erzeugt Dynamiken, die demokratische Grundprinzipien herausfordern – und die Demokratie muss Wege finden, diesen Herausforderungen konstruktiv zu begegnen.
Ein besonderer Dank gilt dem Publikum, dessen konstruktive und mitunter kontroverse Beiträge den Austausch entscheidend bereicherten. Ob Demokratie und Kapitalismus in einer Symbiose oder doch im Widerspruch zueinander stehen, hängt letztlich von der individuellen Interpretation ab.
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